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03.03.24

Beratum Blog- propriozeptorisches Training

Das Training, das du wahrscheinlich viel zu selten machst: propriozeptorisches Training

Wann hast du zuletzt ein propriozeptorisches Training absolviert? Wenn du nicht gerade kürzlich eine Reha durchlaufen hast oder (semi-)professionell einer Kontaktsportart nachgehst, wirst du vermutlich mit diesem Begriff wenig anfangen können. Dabei ist propriozeptorisches Training für die Gesamtperformance und die Verletzungsprophylaxe von immenser Bedeutung.

„Propriozeption, auch Tiefensensibilität oder Eigenwahrnehmung genannt, ist die bewusste, teilbewusste und unbewusste Verarbeitung afferenter Informationen über die Gelenkstellung, -bewegung und -kraft durch das Zentrale Nervensystem.“ (Quante / Hille 1990: Propriozeption: Eine kritische Analyse zum Stellenwert in der Sportmedizin. In: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin)

Diese Definition dürfte bei Laien vermutlich kaum für eine Erleuchtung sorgen, beschreibt jedoch den Kern des propriozeptorischen Trainings sehr genau. Im Grunde genommen ist die Propriozeption ein Teilaspekt der motorischen Fähigkeit Koordination und bildet somit die allgemeine Grundlage der motorischen Kontrolle des Bewegungssystems. Über verschiedene Rezeptoren (Propriozeptoren) steuert und kontrolliert das Zentrale Nervensystem (ZNS) die muskuläre Aktivität und die Gelenkstellung. Diese Rezeptoren liegen in den Muskeln, Gelenken, Sehnen und in der Haut. Die wichtigsten Rezeptoren sind:

  • Pancini-Körperchen: Diese findet man in der Gelenkkapsel und in den Gelenkbändern. Sie reagieren auf Druck, genau genommen auf Druckänderungen. Ihre Funktion ist die dynamische Kontrolle der Gelenkbewegung, bzw. –geschwindigkeit. 
  •  Ruffini-Körperchen: Auch diese findet man in der Gelenkkapsel und den Gelenkbändern. Neben Druck reagieren diese jedoch auch auf Zug und sorgen so für die statische und dynamische Kontrolle der Gelenkwinkelstellung und der Winkelgeschwindigkeit. 
  •  Golgi-Apparat: Der Golgi-Apparat besteht aus den Golgi-Sehnenorganen und den Golgi-Organen. Man findet ihn am Übergang von Sehne zu Muskel und wiederum in der Gelenkkapsel und den Gelenkbändern. Der Golgi-Apparat reagiert auf mechanische Spannungsentwicklung und kontrolliert die Muskelspannung und die Kontraktionskraft, die Gelenkwinkelstellung und die Bewegungsrichtung. 
  •  Muskelspindeln: Man findet sie innerhalb der Skelettmuskeln. Die Muskelspindeln reagieren auf Längenänderung, also die Dehnung und Kontraktion der Muskulatur. Sie messen und kontrollieren die Muskellänge. 
  •  Freie Nervenendigungen: Diese sind in der Gelenkkapsel und den Gelenkbändern, den Sehnen und nahezu allen Geweben des Körpers zu finden. Die Art der wirksamen Reize ist variabel (mechanisch, chemisch oder thermisch). Sie geben Informationen über die Bewegungsgeschwindigkeit, beschleunigende und abbremsende Kräfte, die Bewegungsrichtung und die Gelenkposition.

Nozizeptoren: Dies sind spezifische Schmerzrezeptoren, die man in den gleichen Geweben findet, wie die freien Nervenendigungen. Sie reagieren auf überschwellig gewebsbelastende oder gewebsschädigende Reize und geben Informationen über Gewebsschädigungen. Weiterhin entwickeln sie physiologische Adaptionen durch muskuläre Hemmmechanismen.

Diese, aus den Rezeptoren gewonnenen Informationen nehmen über drei Sinne Einfluss auf den Stütz- und Bewegungsapparat:

1. Der Stellungssinn: Er beinhaltet alle Informationen über die Stellung der einzelnen Gliedmaßen im Raum. 2. Der Bewegungssinn: Er informiert über die Richtung und Geschwindigkeit einer Bewegung. 3. Der Kraftsinn: Er gibt Auskunft über die aufzubringende Kraft.

Aber auch andere Informationen fließen in die Informationsverarbeitung des ZNS: das visuelle System, also die Augen, wie auch das vestibuläre System, also das Gleichgewichtsorgan im Innenohr steuern ihre Informationen bei. Aus all diesen eingehenden Informationen entsteht eine sinnvolle und koordinierte Bewegung, wobei dieser Prozess weitgehend ohne willkürliche Einwirkung abläuft. Die Informationsübermittlung von den Rezeptoren zum ZNS erfolgt hierbei über afferente Nervenbahnen, die Übermittlung der daraus resultierenden Bewegungs- und Aktivierungsanweisungen erfolgt über efferente Nervenbahnen.

Ein sehr anschauliches Beispiel für die Bedeutung der Propriozeption ist die wohl jedem bekannte Stufe zu viel oder zu wenig. Wohl jeder ist schon einmal nachts eine Treppe herabgestiegen und hat eine Stufe zu viel oder zu wenig erwartet. Erwartet man eine Stufe zu viel, sind die entsprechenden Strukturen noch nicht auf einen Bodenkontakt vorbereitet, die Muskulatur, insbesondere des M. quadriceps femoris noch nicht entsprechend kontrahiert und somit kann das Körpergewicht nicht optimal abgefedert werden. Erwartet man eine Stufe zu wenig, kommt der "Tritt ins Leere". Die entsprechenden Strukturen verrichten ihre Arbeit, es kommt aber nicht der erwartete Widerstand.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Abhängigkeit von dem vestibulären und visuellen System. Dies lässt sich einfach veranschaulichen: Stell Dich einbeinig hin. Sollte normalerweise nicht so ein großes Problem sein. Geschafft? Gut, dann nun das gleiche unter Ausschluss des visuellen Systems, sprich: Augen zu! Und? Immer noch so einfach? Dann legen wir nochmal nach: Augen schließen und den Kopf schnell schütteln. Wer jetzt noch wirklich stabil steht, kann davon ausgehen, dass seine Propriozeption überdurchschnittlich gut ausgeprägt ist.

Propriozeptorisches Training im Reha-Bereich

Wer schon einmal eine Verletzung des Bewegungssystems erlitten hat, dem wird das propriozeptorische Training nicht neu sein, denn es ist fester Bestandteil des nachfolgenden Reha-Trainings. Und das hat einen guten Grund: Die meisten Verletzungen des aktiven und/oder passiven Bewegungssystems haben eine Immobilisation verschiedenster Strukturen zur Folge. In der Folge kommt es in der Muskulatur zu einer Atrophie, also einer Abnahme der Muskelmasse, die mit Kraftverlust, verminderter Flexibilität und Koordination einhergeht. Aber auch andere Strukturen werden nachteilig beeinflusst: Durch die verminderte Diffusion durch Bewegung verschlechtert sich die Knorpelernährung und damit die Wasseraufnahmefähigkeit. Im schlimmsten Fall kommt es sogar zum Verlust von Knorpelmasse. Und auch der Kapsel- und Bandapparat wird in Mitleidenschaft gezogen. Die Kapsel kann dabei verkleben und/oder schrumpfen, die Gelenkbeweglichkeit leidet, die Bandstrukturen gewinnen an Länge und verlieren gleichzeitig an Zug- und Reißfestigkeit. Zudem verschlechtert sich die Propriozeption deutlich. Nun ist es durchaus so, dass nicht alle genannten Immobilisationsfolgen auftreten müssen. Hier spielen auch noch eine Reihe anderer Faktoren eine Rolle. Eines aber kann man mit Sicherheit festhalten: Strukturen, die nicht bewegt werden, degenerieren!

Im Rahmen einer physiotherapeutischen Nachbetreuung wird immer versucht, die vorliegenden Immobilisationsfolgen zu vermeiden, sofern sie noch nicht eingetreten sind, oder zu lindern und bestenfalls vollständig zu therapieren, wenn sie schon akut sind.

Insbesondere Kraftsportler neigen dazu, nach einer Verletzung primär die muskulären Immobilisationsfolgen im Auge zu haben. Entsprechend sieht die Trainingsgestaltung aus. Was dabei leider viel zu kurz kommt, ist das Aufbautraining von Knorpel- und Kapsel-Band-Strukturen.

In unserem Zusammenhang ist natürlich vor allem die Verschlechterung der Propriozeption von Interesse, welche mit einer Störung der Kraftsinnes, also der Muskelkraft, des Stellungssinnes, also der Gelenkstellung, des Bewegungssinnes, also der Bewegungskontrolle, des Vibrationssinnes, also der Dämpfung und des Lagesinnes, also der Stellung des Körpers im Raum umschrieben werden kann. Diese tritt vor allem bei Verletzungen und/oder Erkrankungen der Gelenke auf, da hier sensorische (afferente) Strukturen häufig mitbetroffen sind. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die motorischen (efferenten) Strukturen. Die Stilllegung im Vorfeld oder im Anschluss an die Behandlung tut dann ihr Übriges.

Praktisch äußert sich das entstandene verschlechterte sensorische Feedback in Funktionsdefiziten, was sich durch eine verminderte motorische Kontrolle des betroffenen Gelenks bemerkbar macht, einfach formuliert: Der Körper hat verlernt die betreffende Muskulatur rechtzeitig anzuspannen. Dies kann zu Scherkräften im Gelenk führen, die wiederum den Knorpel und den Kapsel-Band-Apparat schädigen können.

Da die verordneten Einheiten Krankengymnastik in den seltensten Fällen ausreichen, um die Propriozeption wieder vollumfänglich herzustellen, sollte im Anschluss in Eigenregie daran weitergearbeitet werden. Dabei sollten folgende Regeln beachtet werden:

  • Das Training sollte erst bei absoluter Schmerzfreiheit, einer vorhandenen Alltagsbelastbarkeit und bei intaktem Gleichgewichtssinn ausgeführt werden. 
  •  Propriozeptorisches Training sollte immer im ausgeruhten Zustand erfolgen. 
  •  Je nach Leistungsfähigkeit kann eine Trainingseinheit zwischen 15 und 20 Minuten dauern. 
  •  Es ist immer auf eine achsengerechte Körperhaltung zu achten. • Die Progression erfolgt von statischen Stabilisierungsübungen hin zu dynamischen Übungen. 
  • Es empfiehlt sich eine Haltedauer von anfangs 5-15s, die später ausgedehnt werden kann; bei dynamischen Übungen sollte der Wiederholungsbereich zwischen 5 und 25 liegen. 
  • Wichtiger als die Progression ist die Qualität der Bewegungsausführung.

Der Nutzen von propriozeptorischem Training für gesunde Athleten

Auch außerhalb des rehabilitativen Bereiches hat propriozeptorisches Training seine Berechtigung. Der Sinn hier besteht vor allem in der Prävention. Es ist nachweisbar, dass Propriozeptionstraining die Sensomotorik verbessert. Konkret bedeutet das, dass das Zusammenspiel zwischen ZNS und der Muskulatur optimiert wird, was in einer schnelleren Muskelkontraktion resultiert. Das ist vor allem für dynamische Sportarten wie beispielsweise Fußball interessant. Einerseits haben Fallstudien gezeigt, dass sensomotorisches Training die Ballführung verbessern kann, weiterhin ist der Nutzen für die Verletzungsprävention immens. Eine Fallstudie an Basketballern beschreibt einen Zuwachs an Agilität durch die verbesserte Koordination.

Jeder, der schon einmal eine Verletzung des Bewegungsapparates erlitten hat, weiß, dass die Verluste von Muskelmasse und Kraft erheblich sind und einen um Monate zurückwerfen können. Vor dem Hintergrund dieses Wissens sollte man sich überlegen, ob es nicht sinnvoll wäre, ein paar Minuten in der Woche dem Training der Propriozeption zu widmen, zumal diese auch bei Gesunden in der Regel nicht sonderlich gut ausgeprägt ist, da größtenteils auf das visuelle und vestibuläre System zurückgegriffen wird.

Übungsbeispiele

Propriozeptorisches Training beginnt im Fuß. Fußfehlstellungen oder –schwächen können eine Kettenreaktion von funktionellen Veränderungen auslösen und somit Beschwerden auch in weit entfernten Gelenken verursachen.

Propriozeptorisches Training für die unteren Extremitäten sollte immer barfuß stattfinden, wobei eine physiologische Fußhaltung einzunehmen ist: der kurze Fuß nach Janda, welcher folgendermaßen aufgebaut wird:


1. Barfuss einen stabilen Stand einnehmen. 
2. Die Füße gleichmäßig belasten. 
3. Die Zehen, die Ferse und der Klein- und Großzehenballen haben Bodenkontakt. 
4. Die Zehen werden leicht gespreizt, das Fußgewölbe hochgezogen. Ein Krallen der Zehen ist zu vermeiden.

Ist diese Fußhaltung eingenommen, kann das Training zunächst im Zweibeinstand, später im Einbeinstand begonnen werden. Dies kann durch ein Schließen der Augen intensiviert werden.

Im Folgenden kann eine Intensivierung durch verschiedene Hilfsmittel wie ein Airexkissen, ein Wackelbrett, ein Therapiekreisel, ein Posturomed uvm. erreicht werden. Im Grunde kann man hierbei nach der Regel "desto instabiler, desto intensiver" gehen. Dennoch ist darauf zu achten, dass die Qualität der Übungsausführung immer gewahrt werden muss.

Im weiteren Verlauf lassen sich auch diverse Kräftigungsübungen mit dem propriozeptorischen Training verbinden, so beispielsweise Zugübungen jeder Art am Kabelturm oder mit einem Theraband und Beinpressen beidbeinig und einbeinig. Auch das Fangen eines Balles kann eine wirkungsvolle Trainingsvariante sein.

Für das Training der Rumpfmuskulatur bieten sich Gymnastikbälle an. Ein anfängliches Training könnte hier aus dem Sitzen auf einem Ball ohne Bodenkontakt mit den Füßen bestehen. Auch hier sind die Steigerungsmöglichkeiten vielfältig, bis hin zu einbeinigem Kniestand bei zusätzlicher Armbewegung. Auch die Arbeit mit dem Gymnastikball lässt sich mit diversen Zug-, Druck- und Rumpfübungen kombinieren.